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Work-Life-Balance in agilen Zeiten? Auf die innere Haltung kommt es an.

Berufliches und Privates vermischen sich immer mehr. Wir sind immer ansprechbar und erreichbar. Wie können wir im privaten und beruflichen Leben einen positiven Umgang mit Herausforderungen finden und extremen Stress vermeiden?

Immer „on“?

Paul M. ist „on“. Morgens lässt er sich von seiner Wecker-App aus dem Schlaf holen. Beim Kaffee tweetet er den geplanten Tag an seine Follower. Soziale Plattformen wollen gefüttert werden, mit wichtigen Infos wie „Guten Morgen – … will heute nach Berlin.“ Im Zug Richtung Metropole bereitet Paul seinen Vortrag über eine neue Technologie vor, beantwortet E-Mails, telefoniert und chattet nebenbei. Der Termin in Berlin läuft gut. Ein Entwicklertreffen mit Kollegen aus den weltweit verteilten Niederlassungen des Konzerns, angefüllt mit Informationen und Begegnungen. Paul stellt neue Ideen vor, beschreibt Zukunftsaussichten und Gewinnprognosen für neue Produkte. Abends, mit Blick auf die Skyline im angenehmen Restsommerlicht, wird gechillt. Das Hotel wartet, noch ein paar Mails, dann lässt sich Paul wieder in die Kissen sinken. Seine Lebensgefährtin Sabine wird er am Wochenende treffen – und dann werden sie sich Zeit für einander nehmen.

Paul arbeitet gerne, er ist seit einigen Jahren Produktentwickler in einem globalen Unternehmen. Als Ingenieur hat er sich mit kreativen und gewinnträchtigen Ideen einen Namen gemacht. Er ist nahezu rund um die Uhr erreichbar, und das stresst ihn nicht – er schafft all dies mit behänder Lässigkeit. Balanciert seit Jahren elegant zwischen Job und Privatleben, verknüpft beides, wo es für ihn passt und folgt gleichzeitig seinen eigenen inneren Prioritäten. Erst seit kurzem schläft er nicht mehr gut, kann sich nicht mehr konzentrieren. Er wurde befördert, eigentlich schön. Um ihn herum wurden verschiedene Bereiche umstrukturiert. Kleine Streitereien mit Kollegen und Kommunikationspannen sind plötzlich an der Tagesordnung. Seine Gedanken kommen nicht mehr zu Ruhe und er benötigt viel Zeit um ihren endlosen Spiralen zu folgen. Fehler entstehen und Stress und Unruhe beherrschen Pauls Denken – die Schaffenskraft und die Freude an seiner Aufgabe schwinden.

Nachdem Pauls Chefin ihm eine Auszeit empfiehlt, wird es nicht besser. Vorahnungen treiben ihn um, die Gewissheit, den Berg Arbeit nicht mehr abarbeiten zu können, der während seiner Abwesenheit weiter anwächst. Das sichere Gefühl, dass seine Mitarbeiter ihn nun erst recht nicht als Chef akzeptieren werden… Nach der Arbeitspause nimmt er einen neuen Anlauf. Aber die Ideen sprudeln nicht mehr. Seine noch recht neue Funktion als Teamleiter bringt Konflikte mit sich. Mal ist er Freund, mal Vorgesetzter, zwischendurch Teamkollege, mal Mitarbeiter. Seine Verwirrung nimmt zu. Paul dehnt seine Arbeitszeit aus und erlebt doch immer mehr Misserfolge, er wird zynisch und unleidlich.

Was will der Arbeitgeber?

Die organisationalen Anforderungen an Pauls verschiedene beruflichen Rollen sind nicht klar definiert. Sie werden vom Unternehmen einfach vorausgesetzt. Paul ist eine fiktive Figur. Er erlebt jedoch Situationen, die vielen Berufstätigen bekannt sind – gerade in einer Zeit, in der viele Unternehmen „agil“ werden wollen und Veränderungen an Arbeitsaufgabe- und umfeld an der Tagesordnung sind. Paul ist noch nicht einmal klar, dass in seinem Unternehmen durch die Beförderung und gleichzeitige fachliche Mitarbeit in anderen Projekten unterschiedlichste Rollenanforderungen an ihn gestellt werden.

Work-Life-Balance „optimieren“

Paul gerät nun auch privat unter Druck, seine Beziehung beginnt in eine Krise zu schlittern. Er ist nicht mehr fähig, sich darum zu kümmern, zu sehr erschöpfen ihn seine beruflichen Aufgaben und eine gewisse Gleichgültigkeit breitet sich in ihm aus. Sein Arbeitgeber rät ihm schließlich noch einmal deutlich, seine Work-Life-Balance zu optimieren. Hört sich gut an. Und ist sicherlich auch wichtig. Aber was bedeutet das genau? Wie soll das gehen?

Eine berechtigte Frage. Work-Life-Balance, das würde ja heißen, dass eine Balance zwischen Arbeit und Leben hergestellt werden soll. Sehr frustrierend für alle jene, die viel Zeit im Beruf und mit der Arbeit verbringen. Fängt das „richtige“ Leben etwa erst an, wenn man das Büro verlässt? Existieren Arbeit und Leben getrennt voneinander und müssen in Balance gebracht werden, damit ein Funktionieren in beiden Welten möglich ist? Das kann nicht ganz richtig sein – auch wenn im Kern ein Ausgleich zwischen unseren verschiedenen Lebenswelten ein guter Ansatz ist.

Naheliegend ist die Betrachtung des Lebens als Ganzes, mit einzelnen Segmenten, z. B. Arbeit und Privates. Wir stillen unsere Bedürfnisse nach Anerkennung, nach Zuwendung und auch danach, unserer Zeit Struktur zu verleihen in beiden Welten. Wir lieben in beiden Welten den Wechsel zwischen Ent- und Anspannung. Ins Ungleichgewicht kommen wir nicht unbedingt, wenn wir mehr Zeit mit der Arbeit verbringen als mit dem Privatleben, sondern wenn z. B. am Arbeitsplatz unsere Bedürfnisse dauerhaft nicht mehr gestillt werden. Wenn Situationen mit hohem Stresspotential überwiegen und wir Spannungen aufbauen und uns nicht mehr flexibel verhalten können, entstehen Unzufriedenheit und Unsicherheit. Dieses Ungleichgewicht kann nicht einfach durch weniger Arbeit und mehr Freizeit behoben werden.

Innere Haltung zur Arbiet beeinflusst Wohlbefinden

Und das Ungleichgewicht befindet sich nicht nur in unserem Kopf sondern löst auch Reaktionen in unserem Körper aus. Der Organisationsberater und Management-Trainer Thomas Weil schlägt vor, den Begriff Work-Life-Balance durch Hormone-Balance zu ersetzen. Was bedeutet das? Stresstoleranz und Glücksgefühle, der Flow beim Arbeiten oder in der Freizeit, entstehen, so Weil, wenn unsere Hormone im sog. limbischen System ausbalanciert sind.

Der richtige Cocktail der drei Schlüsselhormone Oxytocin, Dopamin und Endorphin ist hierfür entscheidend. Oxytocin beeinflusst unsere Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und Anteil zu nehmen. Es wird ausgeschüttet, wenn wir wertschätzende Begegnungen erleben und es ermöglicht uns, befriedigende Beziehungen einzugehen.

Wir werden durch Erfolge motiviert und trauen uns mehr zu, wenn wir eine große Herausforderung gemeistert haben und uns dafür belohnen. Dann produzieren wir Dopamin – und das macht uns weiterhin leistungsstark. Es sind also nicht hohe Anforderungen allein, die uns unter Druck bringen. Folgen wir darüber hinaus unserer inneren Vision vom Leben und erleben das, was wir tun als sinnvoll, und zwar beruflich und privat, dann verhilft uns Endorphin zum Glücksgefühl.

Wenn der Hormon-Cocktail nicht richtig gemixt ist, reagieren wir auf Herausforderungen nicht mehr so gelassen – oder wir führen keine Beziehungen mehr, die unseren emotionalen Hunger stillen. Wenn wir die Komplexität unserer Arbeitswelt als Überlastung empfinden und wir uns dieser Situation nicht mehr gewachsen fühlen, dann ändert sich die innere Haltung zur Arbeit. Wenn das, was wir in unserer Arbeitszeit tun sollen, keinen Sinn mehr für uns ergibt, dann wird sich Zufriedenheit und Glücksgefühl auch nach einer erfolgreich abgeschlossenen Aufgabe nicht einstellen. Was nützt das Gefühl, eine Aufgabe erledigt zu haben, wenn sie uns völlig sinnlos erscheint? Nach und nach geraten wir unter Druck und können psychisch und physisch erkranken, wenn wir die Warnsignale nicht wahrnehmen.

Das, was heutzutage als „Burnout“ bekannt ist, wird von dem Neurowissenschaftler Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer auch als Depression beschrieben (die auch ohne äußere Einflüsse, allein durch die genetische Vorbelastung und/oder die innere Haltung entstehen kann). Eine depressive Erkrankung verlangt nach einer Behandlung. Das ist wichtig, denn bei einer längeren Störung werden Nervenzellen in unserem Hippocampus zerstört, wenn Probleme immer wieder ungelöst dort bearbeitet werden. Bei entsprechender Behandlung, so Spitzer, bilden sich die Nervenzellen glücklicher Weise erneut. Unser Gehirn ist komplex, täglich erreichen uns neue Forschungsergebnisse darüber, was in unserer Schaltzentrale alles passiert. „Man sagt ja oft, das Gehirn sei das komplizierteste Stück Materie, das es im Universum überhaupt gibt“, so Spitzer. Dass die richtige Mischung der Hormone für unser Wohlbefinden wichtig ist, steht fest. Ebenso der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Fokussieren wir uns auf den beruflichen Erfolg, und genießen die damit verbundenen Glücksgefühle während wir unsere Bedürfnisse nach Nähe, Beziehung und Austausch vernachlässigen, dann geraten wir auf Dauer unter Druck. Emotionale Leere macht sich breit. Gerade der Wechsel von abwechslungsreichen, dynamischen und angefüllten Zeiten in die Entspannung ist bedeutend – sonst wird es nichts mit der Balance. Es kommt darauf, Lebensqualität zu spüren, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Die Psychologen Dr. Marja Storch und Dr. med. Gunter Frank weisen darauf hin, dass dies eben nicht heißt, einfach nur gleichmäßig in Beruf und Privatleben eine Liste mit Aktivitäten abzuarbeiten, um den Ausgleich zu finden. Selbstmanagement ist gefragt. Was heißt dies nun für Paul?

Verantwortung übernehmen für eigene „Balance“

Paul ist erstmal offline. Er nimmt sich Zeit, um seine eigenen Wünsche zu erspüren, um sich überhaupt wieder entspannen zu können. Zum Glück hat Paul frühzeitig bemerkt, dass er den Spaß an der Arbeit verliert und dass er keine Energie mehr für Freunde und seine Lebensgefährtin hat. Und dass ihn das nervt. Denn es ist eben so: gerät einer unsere Lebensbereiche aus den Fugen, wirkt sich das auch auf alle anderen Bereiche aus, die Hormone geraten aus der Balance.

Paul übernimmt die Verantwortung für sich und ergründet, wo er sich selbst im Wege stand. Er begegnet seinen Ängsten und achtet auf seine Bedürfnisse. Welche seiner Hoffnungen blieben unerfüllt? Seine innere Haltung ist der Schlüssel. Paul liebte seinen Job als Entwickler – gerne hätte er die Beförderung zum Teamleiter abgelehnt, sich aber nicht getraut nach Alternativen zu fragen. Wer weiß, wie die Chefin da reagiert hätte. Jetzt sieht er das anders. Er fragt.

Zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen tauschen sie dann aus, er und seine Chefin. Paul wünscht sich regelmäßige Gespräche wie dieses. Er fordert klare Strukturen und Rollenbeschreibungen ein. Und noch einiges mehr… Paul ist sich nicht sicher, ob das alles klappen wird. Aber er fühlt sich nicht mehr ausgeliefert. Paul vertieft in seinem Privatleben Freundschaften, die ihm gut tun und Nähe zulassen. Er beginnt, sich wieder nach seiner eigenen, inneren Vision von Sinn und Glück auszurichten. Paul kommt wieder ins Lot und sein Hormon-Cocktail wieder in Balance. Er spürt seine Lebensqualität wieder und beginnt damit, Arbeit und Privates wieder verbinden, vermischen und mal hier, mal dort mehr zu verbringen. Die Rahmenbedingungen kann Paul nur bedingt verändern. Vieles andere schon. Auf die innere Haltung kommt es eben an.

Ute Kröger

… schafft Raum, um neues Denken, Fühlen und Handeln zu entwickeln. Sie macht komplexe Themen kreativ zugänglich und für den Unternehmensalltag nutzbar.